Für Hersteller von Medizinprodukten, die auf den europäischen Markt kommen, ist die Beherrschung des Klassifizierungssystems gemäß der Verordnung (EU) 2017/745 – der EU-Verordnung über Medizinprodukte (MDR) – von entscheidender Bedeutung. Diese Klassifizierungen sind weit mehr als administrative Kategorien; sie sind die Grundlage, auf der regulatorische Compliance, Produktlebenszyklusmanagement und Marktzugangsstrategien aufgebaut sind. Sie beeinflussen nicht nur den Weg der Konformitätsbewertung und die Beteiligung der benannten Stelle, sondern auch den Umfang und die Tiefe der erforderlichen klinischen Nachweise, die Kennzeichnung, die Überwachung nach Markteinführung (Postmarket Surveillance, PMS) und die Rückverfolgbarkeitspflichten.
Dieser Leitfaden bietet eine detaillierte Untersuchung der MDR-Klassifizierungslogik, hebt häufige Herausforderungen hervor, bietet interpretative Einblicke in Grenzfälle und erklärt, wie die Geräteklassifizierung mit dem breiteren EU-Compliance-Rahmenwerk verbunden ist.
Den Zweck der MDR-Klassifizierung verstehen
Die MDR ersetzte im Mai 2021 vollständig die Medizinprodukterichtlinie (MDD) und führte ein strengeres, risikobasiertes Rahmenwerk ein, um ein hohes Maß an Sicherheit und Leistung für Medizinprodukte zu gewährleisten, die auf den EU-Markt gebracht werden. Eine der bedeutendsten Verschiebungen ist der erweiterte Umfang regulierter Geräte, die jetzt ästhetische Produkte mit medizinischem Zweck, eigenständige Software und bestimmte nicht-medizinische Produkte umfassen.
Die Klassifizierung im Rahmen der MDR ist nicht willkürlich; sie ist darauf ausgelegt, die regulatorische Prüfung mit dem Niveau des potenziellen Risikos für den Patienten oder Benutzer abzustimmen. Das Klassifizierungsergebnis bestimmt direkt das Konformitätsbewertungsverfahren, den erforderlichen Dokumentationsgrad und die klinische Bewertung und ob eine benannte Stelle in den Genehmigungsprozess einbezogen werden muss. Daher kann das Klassifizierungsergebnis die Produktzeitpläne, die Ressourcenbeschaffung und den regulatorischen Erfolg beeinflussen.
Risikobasierte Klassifizierungsstufen
Die MDR gliedert Medizinprodukte in vier Hauptkategorien, die jeweils auf ein steigendes Risiko abgestimmt sind:
- Klasse I: Geräte mit geringem wahrgenommenem Risiko, wie z. B. manuelle chirurgische Instrumente, Verbandsmaterial oder nichtinvasive medizinische Möbel. Viele dieser Produkte können vom Hersteller selbst zertifiziert werden, mit Ausnahme von sterilen (Is), mit Messfunktion (Im) oder wiederverwendbaren chirurgischen Instrumenten (Ir).
- Klasse IIa: Geräte, die ein moderates Risiko darstellen, in der Regel solche, die in diagnostischen oder therapeutischen Kontexten verwendet werden, jedoch ohne Leben zu erhalten oder lebenswichtige physiologische Funktionen zu unterstützen. Beispiele sind zahnärztliche Amalgame, Kontaktlinsen und OP-Handschuhe.
- Klasse IIb: Geräte mit höherem Risiko, einschließlich solcher, die für die langfristige Verwendung im zentralen Kreislaufsystem oder in direktem Kontakt mit dem zentralen Nervensystem vorgesehen sind. Infusionspumpen, Beatmungsgeräte und bestimmte diagnostische Bildgebungsgeräte fallen in diese Klasse.
- Klasse III: Dies sind die Geräte mit dem höchsten Risiko, wie implantierbare Herzschrittmacher, künstliche Herzklappen und resorbierbare Nähte. Sie erfordern oft erhebliche klinische Nachweise und werden einer umfassenden Überprüfung durch eine benannte Stelle unterzogen, einschließlich der Überprüfung der Design-, Herstellungs- und Postmarket-Strategie.
Die Klassifizierung gilt nicht nur für fertige Geräte, sondern auch für Zubehör, Komponenten und Systeme. Jede muss nach ihrem eigenen Wert und ihrer beabsichtigten Verwendung bewertet werden.
Anwenden von Anhang VIII: Die 22 Klassifizierungsregeln
Die Regeln für die Klassifizierung sind in Anhang VIII der MDR dargelegt und in vier Themenkategorien unterteilt:
- Nichtinvasive Geräte (Regeln 1–4): Diese Regeln gelten für Geräte, die nicht in den Körper gelangen und Produkte wie Thermometer oder Probenbehälter enthalten. Die Dauer des Kontakts, der Ort der Anwendung und ob das Gerät Substanzen speichert oder modifiziert, beeinflussen die Klassifizierung.
- Invasive Geräte (Regeln 5–8): Diese gelten für Produkte, die durch natürliche Öffnungen oder chirurgisch in den Körper gelangen, und die Klassifizierung hängt davon ab, ob die Anwendung vorübergehend, kurzfristig oder langfristig erfolgt.
- Aktive Geräte (Regeln 9–13): Geräte, die auf eine Stromquelle angewiesen sind, fallen unter diese Regeln. Sie umfassen alles von diagnostischer Bildgebungssoftware bis hin zu chirurgischen Lasern und Dialysegeräten.
- Besondere Regeln (Regeln 14–22): Diese zielen auf spezifische Produkttypen oder Szenarien ab, wie z. B. Verhütungsmittel (Regel 14), Desinfektionsmittel (Regel 15), Software (Regel 11), Nanomaterialien (Regel 19) und Geräte, die Arzneimittel enthalten (Regel 13).
Unter diesen ist Regel 11 besonders kritisch. Sie klassifiziert die meisten medizinischen Softwareprodukte von Klasse I (unter MDD) in Klasse IIa oder höher um, je nach ihren Auswirkungen auf klinische Entscheidungen. Beispielsweise fällt diagnostische Bildgebungssoftware, die die Behandlungsplanung unterstützt, nun je nach Verwendungszweck unter Klasse IIb oder Klasse III.
Regel 21 hat auch eine regulatorische Debatte ausgelöst. Sie umfasst Produkte, die aus Stoffen bestehen, die über eine Körperöffnung oder -anwendung auf die Haut in den Körper gelangen sollen und absorbiert oder lokal verteilt werden. Diese Produkte überbrücken oft die Grenze zwischen Gerät und Arzneimittel.
Wenn mehrere Regeln für ein einzelnes Gerät gelten, müssen Hersteller die Regel verwenden, die zur höchsten Klassifizierung führt. Fehlanwendung oder selektive Regelinterpretation kann zu Compliance-Fehlern führen.
Praktische Beispiele für Klassifizierungsentscheidungen
Um zu kontextualisieren, wie die Regeln angewendet werden, berücksichtigen Sie die folgenden Fälle:
- Software zur automatisierten Analyse von EKG-Daten: Dies würde in der Regel aufgrund seiner Rolle bei der Unterstützung der Diagnose als Klasse IIa nach Regel 11 klassifiziert werden.
- Resorbierbares Herniennetzimplantat: Aufgrund ihrer langfristigen Platzierung und ihrer bioresorbierbaren Natur als Klasse III eingestuft.
- KI-basiertes chirurgisches Navigationssystem: Wird wahrscheinlich als Klasse IIb eingestuft, da es bei Eingriffen mit kritischen anatomischen Regionen hilft und die chirurgischen Ergebnisse beeinflusst.
- Nasengel zur Behandlung von Trockenheit: Je nach Absorptionscharakteristika und beabsichtigten therapeutischen Ansprüchen kann dies unter Klasse IIa oder Klasse IIb fallen.
Diese Beispiele zeigen, wie subtile Unterschiede in der beabsichtigten Verwendung, dem Wirkmechanismus oder der Interaktion mit dem Körper die Klassifizierung drastisch verändern können.
Bestimmung der Klassifizierung Ihres Geräts: Prozess und Best Practices
Der Klassifizierungsprozess beginnt mit der Definition des beabsichtigten medizinischen Zwecks des Geräts, gefolgt von der Identifizierung der geltenden Klassifizierungsregeln. Dies sollte parallel zur Entwicklung der klinischen Bewertungsstrategie und der Risikomanagementdatei erfolgen. Bei Unklarheiten ist die Regel mit der höchsten anwendbaren Klasse anzuwenden.
Es ist wichtig, eine schriftliche Klassifizierungsbegründung zu erstellen, die die angewandte Logik und Regeln dokumentiert. Größere Unternehmen können interne Klassifizierungsvorlagen oder Regelentscheidungsbäume implementieren, um die Konsistenz zwischen Teams und Produktlinien sicherzustellen. Unklarheiten oder Streitigkeiten sollten proaktiv mit einer benannten Stelle oder zuständigen Behörde besprochen werden.
Beteiligung der benannten Stellen
Während Geräte der Klasse I selbst zertifiziert sein können, erfordern Geräte mit höherem Risiko die Beteiligung einer benannten Stelle – einer unabhängigen Organisation, die von den EU-Mitgliedsstaaten zur Bewertung der Konformität bestimmt wird. Zu ihren Aufgaben gehören die Überprüfung der technischen Dokumentation, die Verifizierung klinischer Nachweise, die Prüfung des QMS des Herstellers und die Ausstellung von CE-Zertifikaten.
Hersteller sollten eine benannte Stelle auswählen, die für die entsprechenden Gerätecodes und Produkttypen bestimmt ist. Eine frühzeitige Zusammenarbeit mit einer benannten Stelle kann das Risiko des Einreichungsprozesses verringern, insbesondere für innovative Technologien oder grenzwertige Klassifizierungen.
Konformitätsbewertungswege nach Klassifizierung
Die MDR beschreibt verschiedene Konformitätsbewertungsverfahren in Abhängigkeit von Klassifizierung und Gerätetyp:
- Klasse I: Hersteller bestätigen die Konformität selbst anhand von Anhang IV.
- Klasse ist/Ir/Ir: Die Überprüfung durch die benannte Stelle ist auf die sterilen, messtechnischen oder wiederverwendbaren Aspekte beschränkt.
- Klasse IIa: Die Benannte Stelle führt eine stichprobenbasierte Bewertung der technischen Dokumentation durch (Anlage IX oder X).
- Klasse IIb: Erfordert eine umfassendere Bewertung, einschließlich QMS-Audits und Überprüfungen von repräsentativen Proben.
- Klasse III: Umfasst eine vollständige Überprüfung des Designdossiers, eine eingehende klinische Beurteilung und eine regelmäßige Neubewertung.
Die gewählte Route (Anhang IX, X oder XI) muss mit dem Risikoprofil, der Komplexität und den strategischen Anforderungen des Herstellers übereinstimmen.
Kennzeichnung, UDI und EUDAMED-Registrierung
Alle Medizinprodukte müssen die Etikettierungsanforderungen erfüllen, einschließlich eines eindeutigen UDI-Systems (Unique Device Identifier), das die Rückverfolgbarkeit und die Überwachung nach der Markteinführung verbessert. Die Gebrauchsanweisung muss in der/den Amtssprache(n) des Mitgliedstaats, in dem das Produkt vermarktet wird, bereitgestellt werden. Die Einhaltung der allgemeinen Sicherheits- und Leistungsanforderungen (Anhang I) ist zwingend erforderlich.
Geräte der Klasse IIa und höher müssen in EUDAMED (Europäische Datenbank für Medizinprodukte) registriert sein. Obwohl die Registrierung für Klasse I optional ist, unterstützt die Teilnahme die Transparenz und vereinfacht die Kommunikation nach der Markteinführung.
Überwachung nach der Markteinführung und risikobasierte Planung
Postmarket Surveillance (PMS) muss proaktiv und nicht reaktiv sein. Anforderungsmaßstab mit Geräterisiko:
- Klasse I: Pflege eines grundlegenden PMS-Plans, der sich auf Beschwerden und Produktleistung konzentriert.
- Klasse IIa: Reichen Sie alle zwei Jahre einen periodischen Sicherheitsaktualisierungsbericht (Periodic Safety Update Report, PSUR) ein, der die Nutzen-Risiko-Daten zusammenfasst.
- Klasse IIb und III: Jährliche PSUR-Einreichung, Aktivitäten zur klinischen Nachbeobachtung nach der Markteinführung (PMCF) und Überprüfung durch die benannte Stelle sind erforderlich.
PMS-Daten müssen das laufende Risikomanagement, Designaktualisierungen und Kennzeichnungsrevisionen informieren. Die Regulierungsbehörden erwarten eine enge Integration zwischen den Nachweisen nach der Markteinführung und vor der Markteinführung.
Strategische Überlegungen und zukünftige Technologien
Hersteller müssen auf Folgendes achten:
- Grenzfälle wie kosmetische vs. medizinische Anwendung, insbesondere bei Hautpflege- und Dentalprodukten.
- Software, die sich schnell weiterentwickelt und die Funktionalität nach der Zertifizierung verändern kann.
- Kombinationsprodukte, die sowohl dem MDR- als auch dem pharmazeutischen Recht unterliegen.
Der Aufstieg von KI/ML-basierter medizinischer Software bringt einzigartige Klassifizierungsherausforderungen mit sich. Adaptive Algorithmen, die das Verhalten im Laufe der Zeit ändern, werfen Fragen zu statischen Konformitätsbewertungen auf. MDCG 2019-11 und der vorgeschlagene Artificial Intelligence Act werden die Klassifizierungserwartungen in naher Zukunft neu gestalten.
Klassifizierung als regulatorischer Eckpfeiler
Eine genaue Klassifizierung gemäß der MDR ist ein entscheidender Faktor für die regulatorische Entwicklung eines Produkts in der EU. Sie schreibt nicht nur den Genehmigungsweg vor, sondern auch die Tiefe der Nachweise, Aufsichtsmechanismen und Verpflichtungen nach der Markteinführung. Eine Fehlklassifizierung kann den Markteintritt verzögern, Durchsetzungsmaßnahmen auslösen und das regulatorische Vertrauen erodieren.
Um Compliance zu erreichen und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, müssen Hersteller in die strategische Klassifizierungsplanung investieren, aktuelle regulatorische Informationen aufrechterhalten und die Klassifizierungslogik sowohl an der klinischen Absicht als auch am Produktdesign ausrichten. Bei korrekter Ausführung stellt die Klassifizierung keine regulatorische Hürde dar – sie ist eine Roadmap für den Erfolg des Produktlebenszyklus.